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Mir ist so sibirisch
Ich war noch nie in Sibirien, meine ganze Familie war noch nie in Sibirien, von meinem Großvater als Quittung für seinen unrühmlichen Auftritt bei der Wehrmacht mal abgesehen. Wobei ich gar nicht genau weiß, ob er wirklich in Sibirien war.
Ich jedenfalls war noch nie da. Aber mir ist so, als sei ich es jetzt. Als lebte ich in Oimjakon, was nicht schwer zu erraten in Sibirien liegt. Dort wurde 1938 angeblich der Kälterekord in einer bewohnten Gegend gemessen. -77,8 Grad Celsius.
Sibiren muss Gott leider immer herhalten für einen Vergleich. Nun hat es uns erwischt wie die Damen und Herren aus Oimjakon im Jahre 1938. -77,8 oder -22 Grad Celsius. Berlin ist auf dem Weg nach Oimjakon. Hunde humpeln weil Tatzen gefrieren. Väter tragen Kinder weil diese streiken. Lottoläden zeigen stolz die minus 22 auf ihrem roten Display. Kein Schlendern mehr durch die Strassen, nur noch herumstakeln.
Vielleicht kommt Herr Wolfgang Ketterle zum Herumstakeln auch mal nach Berlin. Er hält schließlich den Weltrekord im Erzeugen tiefster Temperaturen. Annähernd -273 Grad Celsius hat er geschafft. Um genau zu sein, hat er sich diesem Wert um einen milliardsten Grad Celsius angenähert. -273 Grad Celsius ist der absolute Temperaturnullpunkt, der nie erreicht werden kann. Rein physikalisch, was aus Unvermögen hier als Erklärung genügen soll. Ein paar Natriumatome wurden von dem Professor des Massachusetts Institute of Technology in Boston dermaßen gequält, dass sie dem absoluten Temperaturnullpunkt so nahe kamen. Kälter geht nicht.
Kälter geht nur, wenn man an einem Sonntagmorgen um halb 6 auf einem zugigen U-Bahnhof steht, auf dem Weg zur Arbeit. Sonntagmorgen, halb 6, -22 Grad Celsius, Arbeit.
Wie gesagt, kälter geht nicht.
ichbinnichtstiller, 23. Januar 2006 um 21:11:40 MEZ
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